Das Motto der Abiturientinnen und Abiturienten des Jahrgangs 2019 lautet „Nunc est abibendum“. Lässt man den Anfangsbuchstaben A weg, drückt das lateinische impersonale Gerundivum die Notwendigkeit aus, dass man ein Glas trinken sollte auf den Erfolg. Lässt man das zweite B weg und denkt an das Verb ‚abire‘, drückt der Satz etwas aus, was allem bevorsteht, was endet: Nämlich jetzt heißt es wegzugehen, Abschied zu nehmen: „Nunc est abeundum“
Hier ist die Gelegenheit, den Abiturientinnen und Abiturienten einige Worte mit auf den Weg zu geben: Die Abiturprüfung bildet den Schlussstein der gymnasialen Bildung. Es ist der Moment, für den die Schülerinnen und Schüler die letzten Jahre – mal mehr, mal weniger mit Freude, Ausdauer und Erfolg – gelernt und gearbeitet haben. Auf die Frage, was Abitur bedeutet, erhält man von Schülerinnen und Schülern, aber auch Lehrerinnen und Lehrern verschiedene Antworten. Beispielsweise viel Arbeit und Lernen, Abschied, viele Tränen – zum Schluss hoffentlich Freudentränen, einen besseren Job, der nächste Schritt zur Selbstständigkeit, Reife und Freiheit. Was ist Freiheit? Freiheit ist die Möglichkeit, sich ohne Zwang für etwas oder auch dagegen entscheiden zu können. Eigentlich ganz einfach: Wir alle treffen täglich Entscheidungen. Somit sind wir alle frei. Das ist aber sicherlich nicht damit gemeint, wenn jemand sagt: Abitur bedeute für ihn Freiheit; Abitur mache frei. Also fragt man weiter: Warum macht Abitur frei? Warum macht Bildung frei? Zunächst einmal bereitet das Abitur viel Arbeit, kostet Kraft und sogar Tränen; ein sicherlich hoher Preis für die ‚große‘ Freiheit. Und nach dem Abitur? Die Arbeit und das Lernen beispielsweise an der Hochschule oder in der Ausbildung gehen weiter und damit auch das Streben nach Freiheit. Damit verbunden sind beispielsweise die erste eigene Wohnung, das erste selbstverdiente Geld und damit wiederum verbunden die zunehmende Unabhängigkeit von den Eltern. Gleichzeitig bedeutet diese Art von Freiheit aber auch die Zunahme von Verantwortung. Damit aber diese Verantwortung mehr und mehr übernommen werden kann und Freiheit sinnvoll nutzbar wird, ist es notwendig, dass Menschen befähigt sind zu reflektieren und abzuwägen, um dann bewusst zu entscheiden und zu handeln. Denn wenn wie auf einer Waage die Freiheit zunimmt, muss auch die Fähigkeit zur Übernahme von Verantwortung zunehmen. Ansonsten entsteht ein Ungleichgewicht, d.h. die Freiheit wiegt zu schwer, als dass Menschen sie tragen könnten. Verantwortungsfähigkeit ist eine persönliche Kompetenz, die gefördert wird durch Bildung. Mit dem Abitur verbunden sind deshalb Bildung, gleichzeitig auch Freiheit und die Fähigkeit, mit dieser Freiheit bewusst und verantwortlich umgehen zu können. Somit braucht Bildung Freiheit, wie die Freiheit Bildung braucht. Freiheit, damit Menschen ohne Zwang im Kleinen wie im Großen selbst entscheiden können, und Bildung, damit sie die von ihnen getroffenen Entscheidungen auch selbst verantworten können.
Nach dem Versuch, mit wenigen Worten zu erläutern, was Freiheit sei, bleibt der Wunsch, dass unsere Abiturientinnen und Abiturienten sensibel werden für Freiheit, genauer: für deren Chancen und Risiken. Und es bleibt die Hoffnung, dass sie ihre Freiheit dazu nutzen, um persönliche Fähigkeiten und Fertigkeiten auch nach dem Abitur verantwortungsbewusst weiterzuentwickeln. Denn die Welt bleibt nicht stehen, braucht aber gerade die jungen Menschen. Das Ziel gymnasialer Bildung muss es deshalb sein, junge Menschen dafür zu begeistern, sich mit ihren Kenntnissen, Fähigkeiten sowie mit ihren Idealen und Werten in und für unsere Gesellschaft einzubringen.
Dr. Ulrich Winter (Fotos: Fellner)