Am Freitag, 16.07.2021, fand die feierliche Entlassung unserer 85 Abiturientinnen und Abiturienten in der Max-Reger-Halle statt. Wir gratulieren ganz herzlich und wünschen euch alles Gute!

Aus der Ansprache des Schulleiters:

Die Abiturprüfung bildet den Schlussstein der gymnasialen Bildung. Auch wenn wir
uns in diesem Schuljahr die sogenannte gymnasiale Oberstufe anders vorgestellt hatten:
Trotz der pandemiebedingten Einschränkungen konnte dieser Abschnitt gemeinsam
bewältigt werden.

Nach einer langen Zeit der Einschränkungen, die vor allem durch Distanzunterricht
und selbstorganisiertes Lernen gekennzeichnet war, stellt sich die Frage, wie erfolgreiches
Lernen gelingen konnte. Lernen bedeutet nach dem Soziologen Hartmut Rosa
„mit der Welt in Beziehung zu treten, sich die Welt anzuverwandeln; insbesondere in
der Lernwelt Schule.“ Aber gerade dies war und ist aufgrund der Pandemie seit über
einem Jahr fast gar nicht mehr möglich. Folglich stellt sich die Frage, ob die Abiturientinnen
und Abiturienten diese wertvolle Lernzeit verloren haben und ob diese Zeit
für immer aus dem Leben verschwunden ist.

Nach meiner Auffassung sind diese Fragen mit folgenden drei Gedanken zu beantworten:
Zunächst ist daran zu erinnern, dass das Sein in der Welt und die Zeit untrennbar
miteinander verbunden sind. Wenn Menschen ihrer Zeit voraus sind und
Tätigkeiten schneller erledigt haben als gedacht, sparen sie scheinbar Zeit ein. Fragt
man sich aber, wo diese Zeit bleibt, so kann festgestellt werden, dass meistenfalls von
dieser Zeit nichts übrigbleibt. Die Menschen könnten sich zurücklehnen und die neu
gewonnene Zeit genießen. Stattdessen aber werden andere Tätigkeiten in Gang und
umgesetzt, die diese Zeit wieder nehmen. So besagt es auch das Sprichwort „Wie gewonnen
so zerronnen“. Der Philosoph Martin Heidegger geht davon aus, modernen
Menschen komme die Zeit so sehr abhanden, dass diese Zeit „im Eimer“ ist. Menschen
also leben in einem Missverhältnis in Bezug auf ihr Zeit- und Weltverständnis,
da Zeit- und Seinsverhältnisse stets miteinander verknüpft sind. Geht man also davon
aus, dass aufgrund der Pandemie wertvolle Bildungszeit für immer verloren gegangen
ist, also „im Eimer“ ist, dann wäre wohl die Zeit der Pandemie nicht richtig genutzt
worden. Obschon Lernen im Präsenzunterricht schneller und effektiver gewesen wäre,
so wäre doch letztlich keine Zeit gewonnen. Ausgehend von Heideggers Satz wäre
nämlich die durch den Präsenzunterricht gewonnene Zeit wohl mit anderen Tätigkeiten
gefüllt worden, sodass Lernen im Präsenzunterricht nicht erkenntnisreicher als im
Distanzunterricht gewesen wäre. Denn entscheidend ist letztlich immer, wie Menschen
in der Welt stehen – auch und gerade in Zeiten einer Pandemie – und dass sie
jede Zeit, also auch die der Pandemie sinnstiftend nutzen.

Der zweite Gedanke konzentriert sich darauf, dass Lernen Resonanz benötigt. Unterricht
soll Lernende dabei helfen, sich die Welt zu erschließen und aus unterschiedlichen
Perspektiven wahrzunehmen. Nach Hartmut Rosa müssen Menschen dafür mit
einer Sache prozesshaft in eine Beziehung kommen, um sie sich tatsächlich anzueignen.
Ein solches Lernen bezeichnet Hartmut Rosa als Resonanz, die weit mehr als die
Aneignung von Wissen ist. Vielmehr bedeutet sie „Anverwandlung von Welt“, die
bewirkt, dass Lernende sich selbst verwandeln. Unterricht gelingt, wenn es im Lernund
Unterrichtsraum knistert. Lernen muss hörbar sein und benötigt demnach Resonanzräume.
Während des pandemiebedingten Distanzunterrichts hat im virtuellen
Klassenraum vieles geknistert; beispielsweise versehentlich nicht ausgeschaltete Mikrofone
oder Stimmen von Lehrerinnen und Lehrern oder Mitschülerinnen und Mitschülern.
Digitales Lernen verfügt zwar über technisch beeindruckende ‚Reichweitenvergrößerungsprogramme‘,
die aber häufig nicht finden lassen, wonach Lernende suchen.
Außerdem haben Resonanzbeziehungen immer eine leibliche und eine Beziehungsdimension.
Bildschirme indes sind enge Monokanäle zur Welt. Lernen verarmt,
wenn es zu einer Symbolverarbeitung im Gehirn wird, die außerhalb der echten Welt
stattfindet.

Dieser zweite Gedanke ist im Grunde ernüchternd. Wäre nicht drittens und abschließend
darauf hinzuweisen, dass Resonanzbeziehungen die Welt verflüssigen, indem sie
diese Welt aus ihrer Verhärtung lösen. Menschen lachen, weil sie von etwas berührt
werden. Je mehr sie berührt werden, desto mehr lachen sie – manchmal so lange, bis
Tränen fließen. Solche Berührungsmomente sind auch digital erlebbar. So können
Humor und Lachen digitale Resonanzräume schaffen. Mit einer humorvollen Grundhaltung
können Menschen mit auch pandemiebedingten Unzulänglichkeiten gelassener
umgehen. Sie werden motiviert und können ein gutes Arbeits- und Lernklima
schaffen. Humor ist eine Werthaltung, die Fehler toleriert und gegenüber Neuem offen
ist. Auch eine Pandemie kann aus ihrer Verhärtung gelöst werden, da nicht nur
der Inhalt einer Unterrichtsstunde Resonanz schafft, sondern vor allem auch die Beziehungen,
die Lernende und Lehrende eingehen, wenn sie gemeinsam Unterricht gestalten.
Der Start in den nächsten Lebensabschnitt nach dem Abitur wird auch in diesem Jahr
nicht einfach. Aber mit Humor wird er gelingen. Vielleicht dauert dieser Weg etwas
länger und ist beschwerlicher als vor der Pandemie. Aber er ist nicht „im Eimer“, sofern
man es schafft, die gegebene Zeit sinnstiftend zu nutzen und durch Gelassenheit
und Lachen Resonanzräume des Lernens zu erzeugen – und zwar ein Leben lang.