https://www.metmuseum.org/art/collection (public domain)

Die alten Griechen sprechen zu uns. Auch heute. Sie lieben es zu diskutieren, müssen Pandemien durchstehen und fragen sich ständig, wie man Kinder richtig erzieht. Ihnen geht es um Grundfragen des Lebens.

In loser Folge erscheinen auf unserer Homepage Beiträge aus „Griechischer Sicht.“ Wer gleich mitdiskutieren will, schreibe ein Mail an Dr. Matthias Wellstein unter wellstein.matthias@augustinus-gymnasium.de

 

 

 

 

 

Die Pandemie gibt es schon lange

Schon in der Ilias des Homer werden die Griechen Opfer einer Pandemie. Im Lager vor Troja bricht auf einmal eine Krankheit aus, der viele Soldaten zum Opfer fallen. Der Grund: Der Gott Apoll ist zornig geworden und schießt mit giftigen Pfeilen ins Lager. In blumigen Worten schreibt Homer von Apolls bösem Tun:

Auf der Schulter den Bogen und ringsverschlossenen Köcher.
Laut erschallen die Pfeile zugleich an des Zürnenden Schulter,
Als Apoll dort sich bewegt‘; er wandelte, düster wie Nachtgraun;
Setzte sich drauf von den Schiffen entfernt, und schnellte den Pfeil ab;
Und ein schrecklicher Klang entscholl dem silbernen Bogen.

Nur Maultier‘ erlegt‘ er zuerst und hurtige Hunde:
Doch nun gegen sie selbst das herbe Geschoss hinwendend,
Traf er; und rastlos brannten die Totenfeuer in Menge

https://www.metmuseum.org/art/collection (public domain)

Die Totenfeuer kennen wir auch: Sie erinnern uns an die vielen Beerdigungen; besonders an die Toten aus Norditalien. Und wie in Homers Bild von den Pfeilen bewegen sich die auch heute Viren in den Tröpfchen und stecken die Menschen an. Nur die griechischen Helden bleiben verschont: Ob hier die Götter nachgeholfen haben oder ob die Medizin für sie besser war, verschweigt Homer. Doch in unserer Pandemie hat so mancher Prominente versucht, es wie Agamemnon, Odysseus und Co. zu halten. So setzen sich im letzten Herbst die Bosse des FC Bayern ohne Masken eng beieinander auf die Tribüne der Allianzarena und betrachteten heldenhaft das Spiel. Man fragte sich: Schützt Prominenz vor Ansteckung?  Ein anderes Problem für Prominente in der Pandemie ist die gelegentliche Langeweile. Achill und Ajax, die man auf dem Vasenbild sieht, kommen zwar nicht ins Stadion, aber sie haben viel Zeit, um ein Brettspiel zu machen. Sie waren gesund. Aber heute sind die Viren demokratisch geworden und stecken alle Menschen an. Das musste selbst ein heldenhafter Präsident in den USA erleben. Nur eines war damals besser: Das Ende kam im griechischen Lager schnell. Als der großmäulige Anführer Agamemnon sich bei Apoll entschuldigt hatte, endete die Seuche sofort.

 

Talkshow ohne Show mit Sinn

Archäologisches Institut der Universität Göttingen, Foto Stephan Eckardt

Was ist eine gepflegte Diskussion? Politische Talkshows gehören nicht dazu: Politiker rattern auswendig gelernte Statements herunter und wissen für jede Frage eine Lösung; nur selten gehen sie auf die Argumente der anderen Partner ein. Die Moderatoren lasse sie reden. Eine Diskussion wird nicht daraus. Und der Zuschauer kann sich danach an nichts mehr erinnern, was bedeutend war. Ganz anders führt der alte Athener Sokrates seine Gespräche. Er nimmt sich wichtige Themen vor. Ihm geht es um Erziehung und Werte. In einer dieser Diskussionen will Sokrates die Tugenden, als die Richtlinien für unser Verhalten besprechen. SOKRATES beginnt: Müssen wir nicht eigentlich dieses eine bei uns finden, dass wir wissen, was die Tugend ist? Denn wenn wir etwa gar nicht wissen, was die Tugend, eigentlich ist, wie können wir wohl jemanden Rat darüber erteilen, auf welche Weise er die Tugend am besten erlernt? Sein Gesprächspartner stimmt zu – erst muss man wissen, worüber man spricht. Und so kommt das Gespräch in Fahrt. Nach längerem Hin- und Her wagt der Gesprächspartner Nikias eine Definition der Tugend: Diese Tugend ist, das Wissen über das Gefährliche und das Unbedenkliche im Kriege sowohl, als in allen anderen Dingen. Das klingt gut und verständlich. Doch der andere Gesprächspartner Laches hat einen Einwand: LACHES: Weshalb? Ein Wissen ist doch wohl etwas ganz anderes als Tapferkeit!  Und das stimmt: Nur zu wissen, was richtig ist, ist zu wenig. Wissen ist Kenntnis der Geschichte oder mathematischer Gesetze. Tugend muss ich im Handeln ausdrücken. Das sieht Laches genau und kritisiert Nikias scharf. LACHES: Freilich meint Nikias nein, und eben das ist verwirrt geredet. Doch der Moderator SOKRATES greift sanft ein und führt zurück zum angenehmen Gesprächston: So lasse uns ihn belehren, aber nicht schmähen. SOKRATES führt weiter: Behaupten wir also, o Laches, dass wir wissen, was die Tugend ist?  Sokrates führt seine Partner nun weiter durch die Diskussion. Aber am Ende wissen sie nichts mehr: SOKRATES: Wir haben also nicht gefunden, o Nikias, was die Tapferkeit ist? NIKIAS: Wir scheinen nicht.  Am Ende steht kein Ergebnis. Sokrates erzwingt nichts. Er will unser Nachdenken anregen und er will, dass wir alles durchdenken. Für ihn ist er ehrlicher, sein Nichtwissen zuzugeben als irgendetwas zu behaupten. Als Moderator geht er auf jedes Wort seiner Gesprächspartner genau ein. Er lässt seinen Gästen in jedem Fall ihre Würde. Am Ende des Gesprächs denken Hörer und Leser weiter. Lange erinnern sie sich. Mehr will Sokrates nicht.

 

 

Was geht mich mein Geschwätz von Gestern an?

Historisches Photoarchiv der Antikensammlung der
Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg

Adenauer sagte einmal, als er man ihm vorhielt, seine Meinung ständig zu ändern: Was geht mich mein Geschwätz von Gestern an? Heute folgt ihm der chinesische Präsident Xi Jinping. Er erklärt dem Klimawandel feierlich den Kampf und eröffnet neue Kohlekraftwerke.  Bei Sokrates beißt man allerdings auf Granit, wenn man seine Meinung zu oft ändert. Das merkt auch Sokrates` Freund Hippias. Er spottet, dass Sokrates schon wieder das gleiche wie immer sagt. Sokrates entgegnet kühn: Was ist schlimmer als das, lieber Hippias? Ich sage nicht nur immer das gleiche, sondern ich sage es auch über die gleichen Dinge. Du aber sagst – vielleicht weil du so reich gebildet bist- über die gleichen Dinge niemals das gleiche.  Das klingt sehr spitzfindig, doch Sokrates hat recht: Er hat seine Meinung logisch entwickelt und hält an ihr fest, bis er widerlegt wird. Moden oder Trends folgt er nicht: Ob seine Meinung Zustimmung findet oder nicht, ist Sokrates gleich. Moden und Trends oder der Beifall der Zuschauer sind ohne Bedeutung. Und Sokrates hat recht: Wer Meinungen nach anderen Kriterien als der Wahrheit bildet, wird schnell unglaubwürdig. Sokrates dagegen bleibt konsequent. Noch in seinem Prozess will er keinen Kompromiss eingehen: Lieber lässt er sich verurteilen als gegen seine gründlich durchdachten Grundsätze zu verstoßen oder sich wenigstens auf Formelkompromisse einzulassen. Brauchen wir alle etwas mehr Sokrates?